J. Engeler: Das Erste Helvetische Bekenntnis von 1536

Cover
Titel
Das Erste Helvetische Bekenntnis von 1536. Die Schweizer Protestanten zwischen Bekenntnis und Bündnis


Autor(en)
Engeler, Judith
Reihe
Zürcher Beiträge zur Reformationsgeschichte 31
Erschienen
Zürich 2023: Theologischer Verlag Zürich
Anzahl Seiten
385 S.
Preis
CHF 68.00
Rezensiert für infoclio.ch und H-Soz-Kult von:
Corinna Ehlers, Fachinformationsdienst Theologie, Universitätsbibliothek der Eberhard Karls Universität Tübingen

Judith Engeler widmet sich in ihrer 2021 an der Universität Zürich eingereichten Dissertation einem von der Forschung lange vernachlässigten Text: der Confessio helvetica prior von 1536, dem ersten gemeinsamen Bekenntnis der Evangelischen in der deutschsprachigen Eidgenossenschaft. In ihrer Einleitung (S. 11–24) profiliert Engeler das Bekenntnis als Gemeinschaftswerk schweizerischer und oberdeutscher Theologen, das ebenso in den Kontext des innerevangelischen Abendmahlsstreits einzuordnen ist wie in die Politik der eidgenössischen Städte und den Briefwechsel der Beteiligten.

Nach einem Überblick zur politischen Struktur der Eidgenossenschaft wird die „Bündnisentwicklung zwischen 1524 und 1535“ (S. 25–50) dargestellt: Auf Erläuterungen zu den Burgrechtsbündnissen evangelischer, zur Christlichen Vereinigung altgläubiger Orte sowie zum Zweiten Kappeler Landfrieden folgt eine Skizze der (kirchen)politischen Situation in den evangelischen Orten Zürich, Bern und Basel sowie den Zugewandten Orten St. Gallen, Biel und Mülhausen. Mit dem 1532 erfolgten Beitritt Straßburgs zum Schmalkaldischen Bund waren die evangelischen Eidgenossen politisch weitgehend isoliert.

Das Kapitel „Abendmahlsstreit zwischen 1525 und 1535“ (S. 51–86) legt den Schwerpunkt auf Debatten in Oberdeutschland zwischen Johannes Brenz und Johannes Oekolampad sowie zwischen Martin Bucer, Brenz und Simon Grynäus, das Marburger Religionsgespräch, die Bekenntnisse des Augsburger Reichstags von 1530 sowie Bucers Einigungsbemühungen der 1530er-Jahre. Dabei hebt Engeler die Verflechtung theologischer Entwicklungen mit politischen Interessen ebenso hervor wie den Umstand, dass der Abendmahlsstreit im oberdeutschen Raum sich vor dem Hintergrund vorhandener Kontakte und ähnlicher Bildungswege abspielt und auch inhaltlich nicht auf die Positionen Martin Luthers und Ulrich Zwinglis reduziert werden kann.

Im „Verhältnis der eidgenössischen Städte“ (S. 87–122) zeigt sich, dass der Anspruch, den evangelischen Glauben auch politisch konsequent zu vertreten, in der Praxis an Grenzen stieß. Besonders Zürich wollte keinen erneuten Krieg mit den altgläubigen Orten riskieren und war auf der Tagsatzung oft zum Nachgeben gezwungen. Zudem nahmen die evangelischen Orte unterschiedliche Positionen ein; speziell Bern blickte mit Misstrauen nach Zürich.

In Bezug auf das „Briefnetzwerk der Theologen“ (S. 123–173) arbeitet die Studie die Komplexität der Situation heraus: Nahm die ältere Forschung eindeutige Parteiungen in Anhänger Zürichs und Anhänger Straßburgs an, wird hier ein Spektrum in der Beurteilung von Bucers Konkordienplänen sichtbar, das von Bern über Zürich und Basel bis Straßburg reicht. Die Skepsis gegenüber Bucer verringert sich nach Gesprächen oder wächst aufgrund von Luthers Verhalten; Abendmahlsdebatten überlagern sich mit anderen Themen. Auch Pfarrer der gleichen Stadt, etwa Leo Jud und Heinrich Bullinger, vertreten nicht immer einheitliche Positionen.

Das Kapitel „Reformierte Bekenntnisbildung“ (S. 175–214) bietet nach generellen Überlegungen zum Charakter reformierter Bekenntnisse einen chronologischen Durchgang durch Texte von den Anfängen der Reformation bis 1536, die in eidgenössischen Kirchen entstanden oder für diese bedeutsam waren, mit Fokus auf Sakramente, Amt und Kirchenzucht. Die Textauswahl ist breiter als in vielen anderen Darstellungen: Auf Zwinglis 67 Artikel folgen die Ilanzer Artikelbriefe, auf Berner Disputation und Tetrapolitana die Fidei ratio und der Berner Synodus, auf das Erste Basler Bekenntnis und die Zürcher Bekenntnisse von 1534 die Katechismen Juds und Bucers. Die frühen Texte konzentrieren sich auf Abgrenzungen gegenüber altgläubigen Theologumena und Praktiken, spätere auf die innerevangelisch umstrittene Sakramentstheologie. Zugleich hebt Engeler hervor, dass die Unterschiede zwischen Schweizern und Straßburgern sich nicht auf dieses Thema beschränkten, sondern auch Bundestheologie und Dekalogzählung betrafen. Dass auch die eidgenössische Theologie in sich plural war, zeigt sie an Differenzen zwischen Bern und Zürich über die Deutung von Zwinglis Abendmahlslehre.

Das Herzstück der Arbeit bildet das Kapitel „Die Confessio Helvetica Prior als Gemeinschaftswerk“ (S. 215–304). Engeler hebt hervor, dass eidgenössische Theologen und Städte angesichts von Luthers Ketzervorwürfen und der päpstlichen Konzilsausschreibung an einer gemeinsamen Bekenntnisgrundlage interessiert waren (während Reinhold Friedrich1 und andere eher Bucers Einigungsbemühungen als treibende Kraft sehen). Dazu wurde ab dem 28. Januar 1536 ein Treffen in Basel einberufen, zu dem die Straßburger am 1. Februar hinzukamen. Bullinger, Oswald Myconius und Grynäus erarbeiteten die lateinische Erstfassung. Eine um Bucer, Wolfgang Capito, Jud und Kaspar Megander ergänzte Kommission überarbeitete den Text. Jud übertrug ihn ins Deutsche. Die Änderungen werden anhand der Archivquellen rekonstruiert. Die Einfügung von Artikeln zum Beispiel über Rechtfertigung und über den freien Willen sowie die Überarbeitung der Sakramentslehre erscheinen als vom Straßburger Anliegen getragen, den Text für Wittenberg tolerabel zu gestalten; Juds Übersetzung vereindeutigt hingegen im Zürcher Sinne.

Die Theologie der Confessio wird im Vergleich zu den im vorherigen Kapitel behandelten Bekenntnissen sowie weiteren Schriften Zwinglis und Bullingers profiliert. Hier können nur schlaglichtartig einige wichtige Aspekte genannt werden. So weist Engeler nach, dass der Einstieg mit der Schriftlehre sich von früheren Bekenntnistexten unterscheidet und Bullingers Systematik entspricht. Die Kirchenzucht ist – mit Bullinger und gegen Oekolampad – neben den Pfarrern auch Aufgabe der Obrigkeit; die Rückbindung der Taufe an die Erwählung entspricht hingegen eher Bucer und Zwingli als Bullinger. Zum Abendmahl hält Engeler in kritischer Auseinandersetzung mit der Forschung fest, dass die Formulierungen weder früheren Straßburger noch Zürcher Texten unmittelbar entsprechen: Vielmehr wird die zürcherische Unterscheidung von Zeichen (leiblicher Abendmahlsvollzug) und bezeichneter Sache (Gemeinschaft des Leibes Christi, Heil und Sündenvergebung) zwar festgehalten, aber das Verhältnis zwischen beidem nicht explizit bestimmt. Damit ist das Bekenntnis nicht nur für die Zürcher Vorstellung offen, dass beides nicht aneinander gebunden ist, sondern auch für die Straßburger Vorstellung, dass das geistliche Heil mittels des leiblichen Abendmahlsvorgangs angeboten wird (exhibitio). Ebenso wird einerseits festgehalten, dass Gott die Zeichen des Heils durch die Diener seiner Kirche anbiete, andererseits, dass das Heil allein Wirken Gottes und nicht an menschliches Tun geknüpft sei. Der überarbeitete deutsche Text wurde am 27. März 1536 von den evangelischen Orten angenommen. Straßburg und Konstanz unterzeichneten nicht und verwiesen auf die Tetrapolitana.

Abschließend wird die „Wirkung und Rezeption der Confessio Helvetica Prior“ beleuchtet (S. 305–348). Luther hatte kaum Kritikpunkte, verlangte jedoch als Voraussetzung einer kirchlichen Einigung die Zustimmung zur Wittenberger Konkordie, auf die sich Wittenberger und Oberdeutsche im Mai 1536 verständigten. Dies war für die Schweizer nicht akzeptabel. Auf neue Ketzervorwürfe Luthers reagierte Bullinger 1545 mit dem Zürcher Bekenntnis, in dem er die Confessio helvetica prior als Ausdruck des Schweizer Friedenswillens darstellte, sie aber nun der Wittenberger Konkordie inhaltlich entgegensetzte. Der Briefwechsel der Schweizer Theologen zeigt, dass sie das Bekenntnis im Folgenden als gemeinsame Grundlage ansahen, wenngleich die Interpretation durchaus strittig blieb – sowohl untereinander als auch im Verhältnis zu Straßburg.

Die große und unhintergehbare Leistung dieser Arbeit liegt darin, die Confessio helvetica prior als Text von eigenständiger Bedeutung zu profilieren. Das Bekenntnis erscheint nicht mehr als bloßes Nebenprodukt von Bucers Einigungsbemühungen oder als Überformung einer Position durch die andere, sondern als genuine Verständigung zwischen unterschiedlichen theologischen Haltungen innerhalb der Eidgenossenschaft, die sich im Folgenden auch kirchenpolitisch für die dortigen Evangelischen als grundlegend erwies. Damit verbindet sich eine beeindruckende Differenzierung im Hinblick auf Akteure, Themen und Einflussfaktoren: Vor Augen treten nicht nur Zürich und Straßburg, sondern auch Bern, Basel oder Schaffhausen, nicht nur die Abendmahlslehre, sondern ein Themenspektrum von der Bilderfrage bis zur Prädestination, keine rein dogmatische Debatte, sondern komplexe Wechselwirkungen zwischen theologischen und außertheologischen Faktoren. Lediglich die getrennte Behandlung der politischen Lage, der Briefe und der Bekenntnisse im ersten Teil des Buches macht es (trotz Querverweisen in den Fußnoten) nicht immer leicht, die Bezüge zwischen diesen Ebenen nachzuvollziehen.

Zukünftige Forschungen können an diese Ergebnisse anknüpfen. So wäre es etwa aufschlussreich, zu verfolgen, ob und wie der eidgenössische Diskurs im weiteren oberdeutschen Raum (etwa in Württemberg oder Ulm) wahrgenommen wurde. Ausgehend von Engelers These, dass die Confessio eine „Zusammenfassung der schweizerisch-reformierten Theologie” (S. 349) darstelle, lässt sich fragen, wie sich diese Einigung zur späteren reformierten Konfessionsbildung verhält: Ist die Confessio helvetica prior mit dem Consensus Tigurinus von 1549 überholt, oder steht ihre andauernde Wirkung auch bei den folgenden Verständigungsprozessen im Hintergrund? Wie Engeler selbst ausführt (S. 354), ließe sich auch das Verhältnis zur Confessio helvetica posterior im Zuge einer Wirkungsgeschichte neu bestimmen. Der mit dem J.-F.-Gerhard-Goeters-Preis ausgezeichneten Arbeit ist – nicht nur in dieser Hinsicht – eine breite Rezeption zu wünschen.

Anmerkung:
1 Vgl. Reinhold Friedrich, Martin Bucer – „Fanatiker der Einheit“? Seine Stellungnahme zu theologischen Fragen seiner Zeit (Abendmahls- und Kirchenverständnis) insbesondere nach seinem Briefwechsel der Jahre 1524–1541, Bonn 2002, S. 91–117.

Redaktion
Veröffentlicht am
19.02.2024
Autor(en)
Beiträger
Redaktionell betreut durch
Kooperation
Die Rezension ist hervorgegangen aus der Kooperation mit infoclio.ch (Redaktionelle Betreuung: Eliane Kurmann und Philippe Rogger). http://www.infoclio.ch/
Weitere Informationen
Klassifikation
Epoche(n)
Region(en)
Mehr zum Buch
Inhalte und Rezensionen
Verfügbarkeit